Dissertation

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Das Foto zeigt die Holzwerkstatt in einer Kernschule in Atlacomulco in Méxiko. Vier sehr junge männliche Schüler arbeiten zusammen mit ihrem Lehrer am Bau von Etagenbetten. Am linken Bildrand steht eine Sägemaschine, im Hintergrund sind weitere Bettgestelle zu erkennen.

Schule der Befreiung? Die Kernschule als Lehrstück für Schulreformen in Lateinamerika. Saarbrücken: Breitenbach 1992.

Ein Nucleo escolar (Kernschule) ist ein verflochtener Schulkomplex mit einer Mittelpunktschule und mehreren Zweigschulen in einem größeren sozialräumlichen und sozio-kulturellen Einrichtungsbereich. Kernschulen haben eine hohe schulrechtliche Autonomie, um den Anspruch von Dezentralisierung der Schulsysteme, Regionalisierung der Curricula und Partizipation der Community einzulösen. In Kernschulen werden über die üblichen unterrichtlichen Aktivitäten hinaus ökonomische, soziale und auch politische Aktivitäten sowie landwirtschaftliche oder handwerklich Produktivität entfaltet („Klassenzimmer-Werkstatt-Feld“) und sie stehen in enger Beziehung zum lokalen Gemeinwesen. Zumeist wird ein bilinguales und interkulturelles Bildungskonzept umgesetzt.

Dieses Schulmodell wurde 1931 in Warisata, einem Dorf auf dem bolivianischen Altiplano, etwa 150 km nördlich von La Paz und nah zum Titicaca-See gelegen, zum ersten Mal erprobt. In dieser Gegend leben bis heute die Aymara, oft in bitterer Armut. Der Schulversuch hatte sich zum Ziel gesetzt, eine „indigene Bildung“ zu entwickeln, die die Sprache, Kultur und Lebensrealität der Aymara zum Bezugspunkt nimmt. Die Organisation des Schulkomplexes folgte den Werten, der Arbeitsorganisation, dem gemeinschaftlichen Grundbesitz und den Formen der Selbstorganisation der ayllu, den indigenen Comunidades. Die Indigenisierung der Schule zeigt sich auch ein Stück weit in ihrer Architektur (→ Download: Die Kunst von Warisata). In einer Auswertung des Nachlasses des Schulgründers, der Schulakten sowie in vielen Gesprächen und Interviews ehemaliger Lehrkräfte und Schülerinnen und Schüler konnte ich das historische Schulmodell rekonstruieren.

Das Schulkonzept wurde nicht nur in Bolivien, sondern in insgesamt 17 lateinamerikanischen Ländern aufgegriffen, fast immer in indigenen Kontexten und ausschließlich in ländlichen Regionen. Mittels Dokumentenanalysen konnte ich die Rezeptionsgeschichte des Konzeptes nachzeichnen und den Wandel und Typologien dieses Schulmodells herausarbeiten. Die Analyse ergab einerseits eine kontinuierliche Optimierung, andererseits aber auch eine fortschreitende Entpolitisierung des Schulkonzeptes, beispielsweise in Bezug auf Autonomie und Partizipation. Gleichwohl konnte ich aber auch Beispiele für Schulprojekte finden, in denen weiterhin die soziale Frage in den Mittelpunkt der Bildungsarbeit gestellt wurde.

Mittels eines Vergleichs von zwei Kernschulen, die eine Warisata, so wie sich die Schule 1989 darstellte, und eine in México, untersuchte ich in Fallstudien die damalige schulische Praxis. Die Schule im mexikanischen Atlacomulco war sehr interessant, weil die Region schon damals in massive Modernisierungsprozesse, vor allem Industrialisierung und Tourismus, eingebunden war, dem sich auch die Mazahua, das dort siedelnde indigene Volk, nicht entziehen konnten und sich daraus Rückfragen an das bilinguale und interkulturelle rurale Konzept ergaben. Beeindruckend fand ich, wie bereits 12-Jährige in eine systematische berufliche Vorbereitung in verschiedene handwerkliche Tätigkeiten eingebunden wurden. Das Foto oben wurde in Atlacomulco aufgenommen.

Die historischen und systematischen Erhebungen konnte ich zu Fragen der Schulreform theoretisieren, zum Beispiel zu Schule(n) in vernetzter Regionalisierung, kritischer Interkultureller Bildung, Ambivalenzen der Schulsprachpolitik, von der produktiven Arbeitserziehung zur beruflichen Qualifizierung und Qualitätsverlust, Reformwiderstände und Partzipationschancen in Schulreformprozessen.   

Download

Hier können Sie Informationen zur Architektur in Warisata in einer PDF Datei downloaden.

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