Arbeitsweltbezogene Grundbildung

Arbeitsweltbezogene Grundbildung

Das Schwarz-weiß-Bild zeigt eine große Halle. An der Decke hängen mächtige Stahlträger und große Belüftungsrohre. In der Halle sind durch dünne Holzwände abgeteilte Schlafmöglichkeiten aufgestellt. Eine Wohneinheit wird aus zwei doppelstöckigen Etagenbetten gebildet, zwischen denen jeweils zwei Spinde und an der Rückwand noch zwei Regale stehen. Nach oben sind die Kabinen offen, zum Gang hin sind sie mit dunklen Vorhängen abgeschirmt. Parallel in mehreren Reihen angeordnet, sind insgesamt dreizehn Einheiten geschaffen worden. An der linken Hallenseite sind die Wände gekachelt und Türen führen (vermutlich) zu den Toiletten und Duschen. Die Halle ist ganz neu gebaut und bezugsfertig, aber noch nicht bewohnt. Im mittleren Gang sind ganz winzig drei Personen erkennbar.
Seit den 1980er Jahren wird Literalität als eine soziale Praxis verstanden, die in den alltagsweltlichen Kontexten verwurzelt ist, in denen Menschen leben und arbeiten. Die New Literacies zeigen, dass die Bedeutung und der Gebrauch von Kulturtechniken ein und derselben Person in einzelnen Lebens­bereichen – in der Familie, in der Freizeitgestaltung, in der Arbeitswelt – sehr variieren können. In meinen Forschungen habe ich mich vor allem mit der arbeitsweltbezogenen Grundbildung befasst, einem pädagogischen Feld der Erwachsenenbildung, in dem Lese-, Schreib- und Rechenkurse sowie Weiterbildungsangebote im Bereich niedrigqualifizierter Tätigkeiten entwickelt werden.

In empirischen Studien konnten wir zeigen, dass ein beträchtlicher Anteil der in Deutschland lebenden Erwachsenen, die nur rudimentär alphabetisiert sind, zumeist mehrere Jahre lang die Schule besucht und teilweise sogar einen formalen Bildungsabschluss erlangt hat. Deshalb sprechen wir von einem post­schulischen Analphabetismus. Wenn die Literalitäts­kompetenzen nur unsicher ausgebildet sind, können diese rasch wieder verloren gehen, da sie im Alltagsleben nur selten gebraucht und somit nicht trainiert werden. Oftmals stellen auch die Arbeitsplätze nur geringe Anforderungen an Schriftsprachlichkeit; längerfristige Erwerbslosigkeit erhöht noch das Risiko der Illiteralität.

In mehreren Untersuchungen haben wir nachgewiesen, dass viele Ansätze und Konzepte der arbeitsweltbezogenen Alphabetisierung und Grundbildung weiterhin nur unzureichend spezifische Lern- und Bildungsbedürfnisse berücksichtigen: Kursmaterialien sind oftmals unübersichtlich und unklar, ohne sprachliche Hilfen und schon gar nicht barrierefrei gestaltet. Insbesondere Frauen sind auf eine kurs­begleitende Kinderbetreuung angewiesen, arbeitsweltbezogene Angebote müssen in den betrieblichen Ablauf integriert werden. Menschen, die in Großsiedlungen wohnen oder in Erstversorgungseinrichtungen für Geflüchtete untergebracht sind, brauchen einen Zugang zum Internet, weil in Deutschland viele benachteiligte Quartiere oder Wohnunterkünfte noch nicht am Netz sind.

Mit der Kursethnografie haben wir eine spezielle Erhebungsmethode entwickelt, um das Kursgeschehen zu dokumentieren, zu analysieren und sodann die Kurskonzepte fortzuschreiben. Denn die Didaktik der arbeitsweltbezogenen Grundbildung ist ein völlig vernachlässigtes Forschungsfeld. Wir haben didaktische Modelle für spezifische Branchen im Bereich der Einfachtätigkeiten erprobt (z.B. Lager/Logistik, Gastronomie, Gebäudereinigung, Einzelhandel), sodass ältere Jugendliche und Erwachsene im Übergangssystem Schule/Arbeitswelt bzw. in der arbeitsweltbezogenen Grundbildung ihre schriftsprachlichen, Rechen- und IT-Kompetenzen erweitern können. 

Außerdem haben wir eine theoretisch begründete Suchsystematik und ein empirisch fundiertes Berichtskonzept zur Erarbeitung und Digitalisierung eines sozialräumlichen und kommunalen Grundbildungsatlas entwickelt, um Unterversorgungen mit Angeboten im Nahraum zu identifizieren.

Veröffentlichungen zur Arbeitsweltbezogenen Grundbildung
  • Sharing practice: Peer Assisting in Transnational Learning Partnerships. In: International Journal of Learning, Volume 17 (2010) 1, pp. 365-373. 
  • Arbeitsrealitäten und Lernbedarfe wenig qualifizierter Menschen. (Zusammen mit Anne-Kristin Bindl und Marc Thielen). Bad Heilbrunn: Klinkhardt Verlag 2011.  
  • Grundbildung für den Arbeitsplatz. In: Bundesministerium für Bildung und Forschung (Hrsg.): Zur Nachahmung empfohlen: Grundbildung für den Arbeitsplatz. Bonn/Berlin: 2011, S. 5-9.    
  • Lifelong learning and illiteracy – an irresolvable contradiction? In: Current trends in the concepts and strategies of lifelong learning. Materials of an International Forum. Volume I. St. Petersburg: Academy of In-service Pedagogical Education 2012, pp. 62-76. 
  • Postschulischer Analphabetismus. In: SchulLINK. Datenbank für Schulmanagement. Herausgegeben von Wolfgang Bott, Elmar Diegelmann, Gerhard Liese und Eric Sting. Köln: Carl Link Verlag 2012, o. S. 
  • Alphabetisierung versus Grundbildung – ein notwendiger Gegensatz. In: Alfa-Forum. Zeitschrift für Alphabetisierung und Grundbildung 26 (2012) 79, S. 6-8.  
  • Postschulischer Analphabetismus – Rückfragen an die Pädagogik des Übergangs. In: Die Deutsche Schule 105 (2013) 1S. 41-52. 
  • Funktionaler Analphabetismus – ein altes Problem wird neu sichtbar. In: Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete 82 (2013) 2, S. 99-101.  
  • Themenstrang: Funktionaler Analphabetismus. Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete 82 (2013) 2 ff. 
  • Schwerpunktthema: Alphabetisierung und Grundbildung. (Zusammen mit Michael Grosche). Empirische Sonderpädagogik 5 (2013) 3. 
  • Stand und Perspektiven der empirischen Alphabetisierungsforschung. (Zusammen mit Michael Grosche). Empirische Sonderpädagogik 5 (2013) 3, S. 250-262. 
  • Analphabetismus. In: SchulLINK. Datenbank für Schulmanagement. Herausgegeben von Wolfgang Bott, Elmar Diegelmann, Gerhard Liese und Eric Sting. Köln: Carl Link Verlag 2014. 
  • Die Pralinenpendlerinnen. Auf den Spuren sardischer Arbeitsmigrantinnen in einem Süßwarenunternehmen in Hessen. (Zusammen mit Maren Gag und Claudia Zaccai). Münster: Waxmann Verlag 2014. 
  • Arbeitsweltorientierte Grundbildung. Konzepte und Erfahrungen aus Hamburg. (Zusammen mit Angela Grotheer). Bad Heilbrunn: Klinkhardt Verlag 2016. 
  • Berichte aus den Randbezirken der Erwachsenenbildung. Eine empirische Analyse der Hamburger Grundbildungslandschaft. (Zusammen mit Maren Gag, Angela Grotheer, Uta Wagner und Martina Weber). Bielefeld: W. Bertelsmann Verlag 2016. 
  • Sprachliche Förderung an „bildungsfernen“ Arbeitsplätzen. In: Berufsbildung in Wissenschaft und Praxis 45 (2016) 6, S. 40-43. 
  • Arbeitsplatzorientierte Grundbildung. In: Handbuch zur Alphabetisierung und Grundbildung. Herausgegeben von Cordula Löffler und Jens Korfkamp. Münster, Berlin: Waxmann/utb 2016, S. 237-249.   
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