Arbeitsstelle für Alltagsbegleitung
Ab 1993 hatte Prof. Dr. Gotthilf Gerhard Hiller am Fachbereich Sonderpädagogik der Pädagogischen Hochschule Reutlingen-Ludwigsburg, eine der beiden baden-württembergischen Ausbildungsstätten für Lehrkräfte an Sonderschulen sowie für sonderpädagogisch-qualifiziertes Fachpersonal zur außerschulischen Betreuung und Beratung Behinderter und sozial Benachteiligter diese Arbeitsstelle eingerichtet, die ich mehrere Jahre lang koordiniert habe.
Das Ziel der Arbeitsstelle war der Aufbau einer systematischen Alltagsbegleitung in der Stadt und im Landkreis Reutlingen an Förder-, Haupt-, Berufs- und Berufsfachschulen und die Intensivierung der Zusammenarbeit zwischen Schulen mit den kommunalen und freien Trägern der Jugendhilfe. Wir versuchten, ehrenamtlich engagierte Menschen in Volkshochschulen, Fördervereinen und Kirchengemeinden für eine Alltagsbegleitung junger Menschen zu gewinnen und zu qualifizieren. Und wir praktizierten damals mit ca. 30 Jugendlichen selbst eine Alltagsbegleitung. Außerdem erarbeiteten wir vielfältige Materialien für den Unterricht, für die Jugendlichen und ihre Begleiterinnen und Begleiter.
Grundlage und Ausgang der Arbeit waren empirische Einsichten, die Werner Baur, Joachim Hofmann, Stefan Schabert, Christine Stein-Siegle und Michael Storz in qualitativen Rekonstruktionen von Lebensläufen sozial-benachteiligter junger Männer und Frauen im Alter von ca. 30 Jahren gewonnen hatten und detailliert die komplexen Herausforderungen aufzeigen konnten, denen junge Menschen ausgesetzt sind und die sie ohne die Begleitung durch kompetente Erwachsene nur schwer alleine bewältigen können.
Benachteiligte Jugendliche und junge Erwachsene erfahren sich häufig als Objekte kurzfristiger, an Einzelproblemen ansetzender Fördermaßnahmen (schulische Bildung, Berufsberatung, finanzielle Absicherung, Rechtsberatung, Gesundheit usw.). Was ihnen fehlt, ist eine kompetente und sensible Begleitung und Beratung über einen langen Zeitraum, die die verschiedenen Bedürfnisse individuums- und situationsbezogen koordiniert. Die Einblicke in solche Lebensläufe stellen zudem und vor allem auch viele Rückfragen an den Unterricht in der allgemeinbildenden Schule.
Die heute in ganz Deutschland verbreiteten Mentoring-Angebote gab es damals nicht, schon gar nicht in institutionalisierter Form. Es gab aber erste Erfahrungen mit dem Aufbau solcher Beratungsangebote an Schulen für benachteiligte Jugendliche, an die wir anschließen konnten. Ziel solcher Beratungsstellen für Alltagsbegleitung an Schulen ist es, sozial- und schulpädagogisch vorgebildete Vertrauenspersonen den benachteiligten Jugendlichen zur Seite zu stellen, um mit ihnen gemeinsam die vielfältigen und sehr komplexen Herausforderungen nach der Schulentlassung anzugehen. Michael Storz hat als Leiter der Zabergäu Förderschule in Brackenheim eine solche Beratungsstelle modellhaft eingerichtet.
Schon in Reutlingen hatte ich mich auf die Alltagsbegleitung von jungen Geflüchteten spezialisiert und in Hamburg weitergeführt (→ Flucht und Bildung). Auch an der (→) Arbeitsstelle für Pädagogische Praxisprojekte haben wir mit Studierenden zusammen Alltagsbegleitungen durchgeführt und reflektiert, als ein relevanter Baustein zur Qualifizierung von Lehrkräften für ihre Arbeit. Vieles, was ich in dieser Praxis gelernt habe, konnte ich zur empirischen Fundierung von lebenslagensensiblen Schulprogrammen nutzen und theoretisieren.
Veröffentlichungen zur Alltagsbegleitung
- Alltagsbegleiter für Benachteiligte. Aufgaben und Chancen der Volksbildung in der modernen Gesellschaft. (Zusammen mit Gotthilf Gerhard Hiller). In: Alber, Wolfgang; Frahm, Eckart; Haußmann, Hans; Loewer, Uwe (Hrsg.): „Das Volk mehr und mehr zu eigenem Urteil erziehen”. Von der Volksbildung zur Weiterbildung. Reutlingen: Volkshochschule 1993, S. 57-64.
- Einmischungen. Alltagsbegleitung junger Menschen in riskanten Lebenslagen. (Zusammen mit Michael Storz). Ulm-Langenau: Vaas Verlag 1994.
- Alltagsbegleitung. Umriß eines Konzeptes für eine präventive Kooperation mit jungen Menschen in erschwerten Lebenslagen. (Zusammen mit Michael Storz). In: Schroeder, Joachim; Storz, Michael (Hrsg): Einmischungen. Alltagsbegleitung junger Menschen in riskanten Lebenslagen. Ulm-Langenau: Vaas Verlag 1994, S. 10-19.
- Hammad. Dokumentation zu zwanzig Monaten Alltagsbegleitung. In: Schroeder, Joachim; Storz, Michel (Hrsg.): Einmischungen. Alltagsbegleitung junger Menschen in riskanten Lebenslagen. Ulm-Langenau: Vaas Verlag 1994, S. 71-84.
- Nachgehende Betreuung an Schulen für Lernbehinderte: Konzepte und Erfahrungen. (Zusammen mit Michael Storz). In: dies.: Einmischungen. Alltagsbegleitung junger Menschen in riskanten Lebenslagen. Ulm-Langenau: Vaas Verlag 1994, S. 109-123.
- „Ein Geschäft, bei dem man sich leicht verrennt”. Alltagsbegleitung als Privatinitiative. (Zusammen mit Michael Storz). In: dies.: Einmischungen. Alltagsbegleitung junger Menschen in riskanten Lebenslagen. Ulm-Langenau: Vaas Verlag 1994, S. 152-168.
- Wer erzieht hier eigentlich wen? Alltagsbegleitung junger Erwachsener durch junge Alte als wechselseitige Erfahrungsproduktion zwischen den Generationen. In: Liebau, Eckart; Schwanebeck, Axel (Hrsg.): Alt und jung. Pädagogische Perspektiven im Generationenverhältnis. Tutzinger Materialie Nr. 80. Evangelische Akademie Tutzing 1996, S. 89-95.
- Dreimal Hamburg-Hauptbahnhof. In: Hiller, Gotthilf Gerhard; Nestle, Werner (Hrsg.): Ausgehaltene Enttäuschungen. Geschichten aus den Arbeitsfeldern der Lernbehindertenpädagogik. Ulm-Langenau: Vaas Verlag 1997, S. 102-106.
- Nur schmutzige Jeans und Schuhe? Die Welt der Objekte in einer „Kultur der Armut”. In: Hiller, Gotthilf Gerhard (Hrsg.): Du könntest mein Vater sein. Wozu eine außergewöhnliche Kurzgeschichte das pädagogische Denken provoziert. Ulm-Langenau: Vaas Verlag 1999, S. 98-103.
- „Ich konnte da ganz anders auftreten!“ Ein Schulungskurs für die Alltagsbegleitung von jungen Flüchtlingen. In: Gemeinsam Leben. Zeitschrift für integrative Erziehung 12 (2004) 3, S. 135-138.