Die Welt buchstabieren – Volkserziehung in Lateinamerika (1992)

Der Umriss von Südamerika ist mit einem Schulgebäude, einer Wandtafel, Figuren eines Puppentheaters, einem tanzenden Mädchen, einer Schulklasse und vielem mehr bunt gefüllt. Im umgebenden Meer sind Fische, Boote und ein Leuchtturm zu erkennen. Auf kleinen Flaggen, die an den Umriss geklebt sind, steht Leamos, das heißt: lesen wir; Escribir, also schreiben, Aprender, das meint lernen sowie Educación popular, das bedeutet Volkserziehung. Das Plakat wird vom Ausstellungstitel gerahmt: Die Welt buchstabieren. Volkserziehung in Lateinamerika

Eine pädagogische Ausstellung zu 500 Jahre Kolumbus und die Folgen  

 Die (→) Befreiungspädagogik versucht durch die kritische Reflexion der sozialen Wirklichkeit – dem Buchstabieren und Entziffern der subjektiven Welt – erste Schritte zu gehen, um diese Realität, die durch Ausbeutung und Unterdrückung gekennzeichnet ist, zu verändern. Die Educación popular (Volks­­erziehungs­­bewegung) ist eine der Antworten, die in Lateinamerika auf die fünfhundert­­jährige Unterdrückung und Ausbeutung des Kontinents gegeben wird. Ausgehend von diesem Konzept sind zahlreiche eindrückliche Projekte entstanden, die die vielfältigen Ansätze im Buchstabieren der Welt verdeutlichen.  

 In Perú schreiben Bauern ihre Kritik an den sozialen Verhältnissen in Kürbisse ein, und die  Minen­arbeiter­innen von Canaria haben die alte Kunst des Gürtel­webens wieder­belebt, um ihre politischen Forderungen darin zu be-schreiben. In Chile haben sich Frauen zusammen­geschlossen, um die „typisch weibliche“ Tätigkeit des Stickens in eine politische Handarbeit zu verändern: Sie nähen Stoffbilder, in denen sie den Problemen ihres Alltags, aber auch ihren Hoffnungen und Wünschen Ausdruck geben. In Nicaragua treffen sich Bauern und Bäuerinnen, Schüler und Kinder in Poesie­werkstätten, um gemeinsam Gedichte zu schreiben, auch um die Schrecken des Bürgerkrieges zu verarbeiten. In México wurde Superbarrio zum Mittelpunkt des Widerstandes gegen die Wohnungs­spekulation: In der Maske des Superman repräsentiert er die kollektive Identität der Obdachlosen. In Bolivien machen Indígenas ihr eigenes Radioprogramm: „Wir werden gehört!“ 

 In Panama wurde das sehr beliebte Volkslied vom Tío Caíman in einer vertonten Diaserie visualisiert und als Arbeits­grundlage in der Bildungs­arbeit zum Thema Kolonialismus genutzt. Auch die Rekonstruktion andiner Rechen­bretter, um damit in der Schule zu arbeiten, gehört mit zur Pädagogik der Unterdrückten: Das Anknüpfen und die Weiter­entwicklung traditioneller Repräsentations­techniken eröffnet eine ökonomische Erwerbs­quelle, die Verarbeitung von Realitäts­erfahrungen und ist Mittel individuellen und kollektiven Protestes. In Kolumbien haben Grundschüler ein Theaterstück verfasst mit dem Titel „Chicha, Bier und Zuckerschnaps“. Die Getränke sind anschauliche Symbole für die Probleme Lateinamerikas: Die traditionelle Chicha (Maismost) steht für ein wichtiges Element der indigenen Kultur, in der Kolonialzeit wurde sie verdrängt vom Zuckerschnaps, den die Spanier einführten und von afrikanischen Sklaven herstellen ließen. Und gegenwärtig sieht sich die Chicha einer weiteren Bedrängnis durch den Kapitalismus ausgesetzt, hier in Form des Flaschenbiers.                

 Das Plakat für die Ausstellung malte der Schriftsteller, Dramaturg, Sänger und Künstler Sergio Vesely, der sich nach dem Putsch in Chile in Süddeutschland niedergelassen hat. Die Exponate wurden als Leihgaben von vielen Menschen aus der „Lateinamerika-Solidaritätsarbeit“ zur Verfügung gestellt. Es gab einen Ausstellungskatalog und auch ein Schülerheft „Supermann in México“.     

 Die Ausstellung war ab dem 27.3.1992 in Tübingen, 4.5. in Groß-Gerau, 5.6. in Dortmund, 20.7. in Düsseldorf, 15.10. in München, 13.11. in Freiburg und 3.12 in Heidelberg zu sehen. Danach wurden Teile der Ausstellung in Kisten verpackt als ein Medienpaket von rund zwanzig Schulen, zehn Kirchen­gemeinden und der Jugendakademie Walberberg ausgeliehen, und schließlich haben wir das gesamte Material dem Entwicklungs­pädagogischen Informations­zentrum in Reutlingen zur weiteren Verwendung übergeben. 

 

Die W

elt buchstabieren – Volkserziehung in Lateinamerika (1992)

Veröffentlichungen zur Ausstellung
  • Die Welt buchstabieren. Volkserziehung in Lateinamerika. (Zusammen mit Corinna Carstensen und Susanne Wörz). München: AG SPAK 1992. 
  • Supermann in Mexiko … und andere Geschichten von Kindern in Lateinamerika. Schülerheft zur Ausstellung. (Zusammen mit Corinna Carstensen und Susanne Wörz). Tübingen 1992. 
  • Volkerziehung ins Museum? Selbstkritischer Rückblick zur Ausstellung: „Die Welt buchstabieren“. Volkserziehung in Lateinamerika. In: Zeitschrift für Befreiungspädagogik (1995) 2, S. 3-8. 
z

Audiowiedergabe

Hier können Sie sich den Inhalt dieser Seite als Audiowiedergabe vorlesen lassen.
Skip to content