Befreiungspädagogik

Befreiungspädagogik

In der Bildmitte sitzt ein gemalter Paulo Freire mit verschränkten Beinen auf dem Boden, er stützt sich mit dem rechten Arm auf einen Bücherstapel. In der linken Hand hält er eine Blume. Links steht eine Frau in einem bunten Kleid und hat ein Buch sowie die brasilianische Flagge in der Hand. Im Hintergrund sind weitere Menschen mit Büchern zwischen grünen Feldern und in einem kleinen Dorf zu sehen.
 Wandbild am Zentrum für Bildungswesen, Technologie und Bildungsforschung des  städtischen Bildungsministers von Campinas, Brasilien. (Foto: Luiz Carlos Cappellano) 

Auf die „Pädagogik der Unterdrückten“ (Paulo Freire) bin ich zum ersten Mal im Gymnasium aufmerksam geworden, als es um Kolonialgeschichte und um die postkolonialen Folgen für das Bildungssystem ging. Meine mündliche Abiturprüfung im Fach Geschichte legte ich zum Thema Freire und die Schule ab, dieses Thema hatte ich dann auch für meine Abschlussarbeit im Ersten Staatsexamen für das Lehramt an Grund- und Hauptschulen und später in der Diplomarbeit gewählt, in der ich eine postkoloniale Analyse zur Geschichte der Schule in Lateinamerika vorlegte, ein Thema, das ich dann in einem Spanisch geschriebenen Buch und schließlich in der Dissertation vertiefend weiterführte.    

Bildungsarbeit wird in der Befreiungspädagogik als Machtverhältnis gedacht: Im pädagogischen Bezug, in den Geschlechterverhältnissen, zwischen relativ Reichen und absolut Armen, im Weltsystem zwischen den Ländern des voll entwickelten Kapitalismus und denen im so genannten „globalen Süden“, in all diesen Relationen herrschen ökonomische, soziale und kulturelle Beziehungen der Hegemonie und Asymmetrie, die sich über die Bildungssysteme permanent reproduzieren. „Befreiende“ Bildungsarbeit versucht diese Strukturen der Macht im Alltag der Menschen zu „entschlüsseln“ sowie Strategien zu entwickeln, um solche Herrschaftsverhältnisse aufzubrechen. Die gesellschaftliche „Praxis der Unterdrückung“ wird zum Gegenstand der Bildungsarbeit, die zugleich Utopien einer „befreienden“ Pädagogik gegen diese alltägliche und strukturelle Ungleichheit entwirft.  

In meinen Forschungsarbeiten habe ich mich intensiv mit der deutschen Rezeption der Befreiungspädagogik in der Sozialen Arbeit, Erwachsenenbildung, Grundbildung und Schulpädagogik auseinandergesetzt. Denn die Befreiungspädagogik ist eines der wenigen Beispiele, dass ein Bildungskonzept des Globalen Südens in der hegemonialen Erziehungswissenschaft des Nordens aufgenommen worden ist. Außerdem habe ich mich am interdisziplinären Diskurs der Befreiungstheologie, Befreiungsphilosophie und Befreiungspädagogik beteiligt, die in Begegnungen mit Paulo Freire, Ivan Illich, Ernesto Cardenal, Enrique Dussel, Moacir Gadotti und Milton Schwantes angeregt wurden. Zum Dritten faszinierte mich Freires Theorie und Praxis der generativen Bilddidaktik, die ich auch in eigenen Projekten (→ Interkulturelle Didaktik, Interkulturelle Kunst) aufgenommen habe.    

Als Paulo Freire 1997 verstarb, haben wir kurz darauf an der Akademie Loccum ein Internationales Kolloquium „In memoriam: Dialog, Pädagogik und gesellschaftliche Transformation in interkulturellen Gesellschaften“ organisiert. Im November 2018 führten wir in Hamburg die Tagung „Dialogisches Denken und Bildung als Praxis der Freiheit. Mit Freire den Herausforderungen einer inklusiven Gesellschaft begegnen“ durch. Denn die Debatten um „Inklusion“ in Deutschland zeigen an, dass Marginalisierung, Stigmatisierung und Exklusion gleichsam konstitutiv für die Gesellschaft sind, und gerade im Bildungssystem und seinen Institutionen – von der Kita bis zur Universität – unverändert wirken. Im Oktober 2021 veranstalteten wir an der Paris Lodron Universität in Salzburg die Konferenz „Solidarität in der globalen Gesellschaft. Dialog und Befreiung in einer digitalen Zukunft“ zum 100. Geburtstag von Freire, in der insbesondere über Machtverhältnisse durch Digitalisierung diskutiert wurde. 

Veröffentlichungen zur Befreiungspädagogik
  • Freire und die Schule. In: Dabisch, Joachim; Schulze, Heinz (Hrsg.): Befreiung und Menschlichkeit. Texte zu Paulo Freire. München: AG SPAK 1991, S. 215-221. 
  • Die Welt buchstabieren. Volkserziehung in Lateinamerika. (Zusammen mit Corinna Carstensen und Susanne Wörz). München: AG SPAK 1992. 
  • Kolumbus und die Pädagogik. In: Deutsche Lehrerzeitung (DLZ), 9/1992, S. 11 (Teil 1) und 10/1992, S. 11 (Teil 2). 
  • Schule der Befreiung? Die Kernschule als Lehrstück für Schulreformen in Lateinamerika. Saarbrücken: Breitenbach 1992. 
  • 500 Jahre Volkserziehung und Herrschaft in Lateinamerika. In: Carstensen, Corinna; Schroeder, Joachim; Wörz, Susanne (Hrsg.): Die Welt buchstabieren. Volkserziehung in Lateinamerika. München: AG SPAK 1992, S. 8-14. 
  • Arbeit – Selbstbestimmung – Befreiung. Lateinamerikanische Gegenentwürfe zur europäischen Schultradition. Frankfurt/Main: IKO-Verlag 1989. Übersetzung in das Spanische: Modelos pedagógicos latinoamericanos. Del Yachay Huasi a Cuernavaca. La Paz: Editorial CEBIAE 1994. 
  • Volkerziehung ins Museum? Selbstkritischer Rückblick zur Ausstellung: „Die Welt buchstabieren“. Volkserziehung in Lateinamerika. In: Zeitschrift für Befreiungspädagogik (1995) 2, S. 3-8. 
  • Straßenschulen – drei Portraits. In: Zeitschrift für Befreiungspädagogik 5/6, 1995, S. 67-76. 
  • Bildungspolitik und Bildungswesen in Kolumbien. (Zusammen mit Patricia Baquero). In: Altmann, Werner; Fischer, Thomas; Zimmermann, Klaus (Hrsg.): Kolumbien heute. Politik, Wirtschaft, Kultur. Frankfurt/Main: Vervuert-Verlag 1997, S. 565-583. 
  • Über Befreiung. Befreiungspädagogik, Befreiungsphilosophie und Befreiungstheologie im Dialog. (Zusammen mit Thorsten Knauth). Münster: Waxmann Verlag 1998. 
  • Befreiung als Paradigma in Pädagogik, Philosophie und Theologie. (Zusammen mit Patricia Baquero und Thorsten Knauth). In: Knauth, Thorsten; Schroeder, Joachim (Hrsg.): Über Befreiung. Befreiungspädagogik, Befreiungsphilosophie und Befreiungstheologie im Dialog. Münster: Waxmann Verlag 1998, S. 11-92. 
  • Befreiung und interkultureller Dialog. Überlegungen zum „Hamburger Hungertuch”. (Zusammen mit Thorsten Knauth). In: Knauth, Thorsten; Schroeder, Joachim (Hrsg.): Über Befreiung. Befreiungspädagogik, Befreiungsphilosophie und Befreiungstheologie im Dialog. Münster: Waxmann Verlag 1998, S. 280-292. 
  • A Pedagogia do oprimido na Alemanha. In: Araújo Freire, Ana Maria (Ed.): A Pedagogia da Libertação em Paulo Freire. Erstveröffentlichung: São Paulo: Paz e Terra 1997, ²1999, S. 133-145. Neuveröffentlichung: São Paulo: UNESP 2001, S. 133-145. Übersetzung in das Spanische: La Pedagogía del Oprimido en Alemania. In: Araújo Freire, Ana Maria; Ivanilde Apoluceno de Oliveira; Roberto Luis Machado (Coord.): La Pedagogía de la Liberación en Paulo Freire. Barcelona: Edition Graó 2004, S. 109-120.    
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