Flucht und Bildung

Flucht und Bildung

Die große Halle, in der die Geflüchteten untergebracht wurden, ist aus der Vogelperspektive aufgenommen. Unter der hohen Hallendecke verlaufen riesige Heizungsrohre. Im rechten Bildteil sind Kojen aneinandergereiht, die notdürftig mit schmalen Trennwänden voneinander abgeteilt sind. Zum Hallenflur schotten dunkle Vorhänge den Blick etwas ab. In jeder Koje stehen zwei Etagenbetten und mehrere Spinde. Im linken Bildrand stehen weitere Kojen.

„Vogelsang-Depot“, Stuttgart-West, eine Wartungshalle für Straßenbahnen. Wurde ab März 1993 als Erstunterkunft für Geflüchtete genutzt.

Nach der Rückkehr aus einem mehrjährigen Aufenthalt in (→) Bolivien und México heuerte ich 1993 für ein paar Monate als Sozialarbeiter beim Sozialamt in Stuttgart zur Betreuung einer Erstunterkunft (→ Download: „Vogelsang-Depot“) für Geflüchtete aus den Balkankriegen an. Das pädagogische Handlungsfeld Flucht, Asyl und Duldung wurde für mich ein zentraler Forschungsschwerpunkt. Im Verlauf von dreißig Jahren publizierte ich unzählige Rekonstruktionen von Bildungs- und Erwerbsbiografien junger Geflüchteter im Spiegel der Bildungs- und Unterstützungsinstitutionen. An dieser Gruppe konnte ich besonders gut die Notwendigkeit einer (→) lebenslagenadäquaten Bildung begründen.

Neu war die transnationale Perspektive, denn damals wurden Flüchtlinge fast ausschließlich als Produkt der Lebensbedingungen in ihren Herkunftsländern betrachtet. An den Lebenslagen zeigte sich jedoch, dass erst in Deutschland die „Produktion“ des Flüchtlings erfolgt. In mehreren Untersuchungen habe ich die schulrechtlichen Entwicklungen für die unterschiedlichen Flüchtlingsgruppen zu Schulpflicht, beruflicher Bildung und zum Studium in den 16 Bundesländern analysiert und asylspezifische Exklusionen beschrieben.

Durch die wissenschaftliche Begleitung von Trägerverbünden zur Beratung, Qualifizierung und Unterstützung im Handlungsfeld Asyl konnten wir zeigen, dass sowohl in den Förderprogrammen als auch in der Forschung vor allem jene Geflüchteten adressiert werden, die mit geeigneten Beratungs-, Bildungs-, Unterstützungs- und Qualifizierungsmaßnahmen relativ rasch ‚fit‘ für den deutschen Arbeitsmarkt werden können, mit der Folge, dass z.B. Geflüchtete mit einer Behinderung in der Praxis wie in der Forschung vernachlässigt werden. Mit der heuristischen Diskursfigur des integrationsfähigen Flüchtlings wurde die These in einem (→) Kooperativen Graduiertenkolleg empirisch überprüft.

Pionierarbeiten sind meine Untersuchungen zu den Lagerschulen in den Flüchtlingscamps, die es als Zeltschulen in den Ländern des Globalen Südens gibt, als Containerschulen in den Erst- und Folgeunterkünften und Ausreisezentren in Deutschland. Was heißt pädagogische Arbeit in solchen Einrichtungen? Immer wieder habe ich Konzepte für die Emergency Education vorgelegt, die in der Spannung von Integration in das Exilland, Rückführung in das Herkunftsland oder Weiterwanderung in ein Drittland ausgelegt sein müssen.

Im Anschluss an Goffmans Verständnis der totalen Institution entwickelte ich das Konzept des totalen Raums zur Theoretisierung der sozialen Lebensbedingungen von Geflüchteten, die durch das Asylregime umfassend reglementiert und fremdbestimmt werden. Mit Bezug auf Foucaults Studien zum Panoptismus lässt sich der soziale Raum des Asyls als „total“ bezeichnen, weil er unabhängig von architektonisch geschlossenen, ummauerten und eingezäunten Räumen als ein komplexes Netz aus Regeln, Diskursen und Gesetzen strukturiert ist.

Meine Erfahrungen in der Alltagsbegleitung von Geflüchteten konnte ich in einem Projekt des Diakonischen Werks in Hamburg weitergeben, in dem wir ein Qualifizierungskonzept für ehrenamtlich tätige Alltagsbegleiter*innen entwickelten und fünf Jahre lang in Vorbereitungskursen und Begleittreffen umsetzten. In bildungstheoretischen Reflexionen habe ich solche intergenerationellen und interkulturellen Settings theoretisiert, in denen sich die Ungleichheit der Weltgesellschaft im pädagogischen Bezug abbildet. Während meiner Universitätstätigkeit habe ich die Alltagsbegleitung, wenngleich in reduziertem Umfang fortgeführt, seit meiner Pensionierung indes wieder intensiviert.

Veröffentlichungen zu Flucht und Bildung
  • Hammad. Dokumentation zu zwanzig Monaten Alltagsbegleitung. In: Schroeder, Joachim; Storz, Michel (Hrsg.): Einmischungen. Alltagsbegleitung junger Menschen in riskanten Lebenslagen. Ulm-Langenau: Vaas Verlag 1994, S. 71-84.
  • Ungleiche Brüder. Männerforschung im Kontext sozialer Benachteiligung. In: Beier, Stefan (Hrsg.): Kritische Männerforschung. Neue Ansätze in der Geschlechtertheorie. Hamburg: Argument-Verlag 1996, S. 300-326.
  • Zwischen Scham und Beschämung. Anregungen für einen lebensweltorientierten Unterricht mit jungen Flüchtlingen. In: Carstensen, Corinna; Neumann, Ursula; Schroeder, Joachim (Hrsg.): Movies. Junge Flüchtlinge in der Schule. Hamburg: Bergmann + Helbig 1998, S. 75-95.
  • Movies. Junge Flüchtlinge in der Schule. (Zusammen mit Corinna Carstensen und Ursula Neumann) Hamburg: Bergmann + Helbig 1998.
  • Lernen in „totalen Räumen” – Ausgrenzung und Marginalisierung afrikanischer Flüchtlings-jugendlicher im deutschen Bildungssystem. (Zusammen mit Heike Niedrig und Louis Henri Seukwa). In: Neumann, Ursula; Niedrig, Heike; Schroeder, Joachim; Seukwa, Louis Henrie (Hrsg.): Wie offen ist der Bildungsmarkt? Rechtliche und symbolische Ausgrenzung junger afrikanischer Flüchtlinge im Bildungs-, Ausbildungs- und Beschäftigungssystem. Münster: Waxmann Verlag 2002, S. 19-31. 
  • Wie offen ist der Bildungsmarkt? Rechtliche und symbolische Ausgrenzung junger afrikanischer Flüchtlinge im Bildungs-, Ausbildungs- und Beschäftigungssystem. (Zusammen mit Ursula Neumann, Heike Niedrig und Louis Henri Seukwa). Münster: Waxmann Verlag 2002.   
  • Lernen am Rande der Gesellschaft. Bildungsinstitutionen im Spiegel von Flüchtlings-biografien. (Zusammen mit Ursula Neumann, Heike Niedrig und Louis Henri Seukwa). Münster: Waxmann Verlag 2003.
  • Verkürzte Jugend. Junge afrikanische Flüchtlinge in Hamburg. (Zusammen mit Heike Niedrig und Louis Henri Seukwa). In: Luig, Ute; Seebode, Jochen (Hrsg.): Ethnologie der Jugend. Hamburg: Lit-Verlag 2003, S. 97-120.
  • Ungesicherter Aufenthalt – verunsicherte Identitäten. Selbst- und Fremdbilder junger afrikanischer Flüchtlinge in Hamburg. In: Angelika Eder (Hrsg.), unter Mitarbeit von Kristina Vagt: „Wir sind auch da!” Über das Leben von und mit Migranten in europäischen Großstädten. Forum Zeitgeschichte, Bd. 14. Hamburg: Verlag Dölling und Galitz 2003, S. 327-348.
  • „Doing black – doing gender.” Afrikanische Flüchtlingsjugendliche aus der Genderperspektive. (Zusammen mit Heike Niedrig). In: Böll, Verena; Günther, Ursula; Hemshorn de Sánchez, Britta; Niedrig, Heike; Schroeder, Joachim (Hrsg.): Umbruch – Bewältigung – Geschlecht. Genderstudien zu Afrikanischen Gesellschaften in Afrika und Deutschland. Münster: Waxmann Verlag 2003, S. 91-107.
  • „Ich konnte da ganz anders auftreten!“ Ein Schulungskurs für die Alltagsbegleitung von jungen Flüchtlingen. In: Gemeinsam Leben. Zeitschrift für integrative Erziehung 12 (2004) 3, S. 135-138.
  • Bildungsperspektiven jugendlicher Transmigranten. Chancen und Barrieren im Bildungswesen aus der Sicht afrikanischer Migrantenjugendlicher in Hamburg. (Zusammen mit Heike Niedrig). In: Oßenbrügge, Jürgen; Reh, Mechthild (Eds.): Social Spaces of African Societies. Aplications and Critique of Concepts about „Transnational Social Spaces“. London: Transactions Publishers 2004, p. 77-110.  
  • An den Lebenslagen von Flüchtlingen entlang orientiert: Anforderungen an Guidance im Zeitalter von Diversity. In: Gag, Maren (Hrsg.): Beratung für Flüchtlinge und Migrant/innen europäisch gedacht. Hamburg: passage 2006, S. 7-12.
  • Diversity and its limits. Requirements, problems and concepts for refugees and migrants. In: Greco, Silvana; Clayton, Pamela; Janko-Spreizer, Alenka (Eds.): Migrants and refugees in Europe: Models of integration and new challenges for vocational guidance. Milano: Franco Angeli 2007, pp. 53-64.
  • Manual on second language training with asylum seekers and refugees. (With Aislaing Flanagan et. al.). Brussels: EQUAL 2007. Übersetzung in das Italienische: Manuale per l’insegnamento della seconda lingua a rifugati e richidienti asilo. Roma: EQUAL 2007.  
  • Recht auf Bildung – auch für Flüchtlinge. Aktuelle Regelungen, konzeptionelle Überlegungen und bildungspolitische Folgerungen. In: Die Deutsche Schule 99 (2007) 2, S. 224-241. 
  • Zugang zur beruflichen Erstausbildung und zu Qualifizierungsangeboten für junge Flüchtlinge. In: Bundesarbeitsgemeinschaft Jugendsozialarbeit (Hrsg.): Verbesserung der Situation junger Flüchtlinge in der Bundesrepublik Deutschland. Bonn: BGJS 2007, S. 41-57.
  • Arbeit und berufliche Bildung für Flüchtlinge. (Zusammen mit Louis Henri Seukwa). In: Standpunkt: Sozial. Forum für Soziale Arbeit und Gesundheit, 2008, Heft 1+2, S. 164-168.
  • Flucht und Asyl. In: Behinderung, Bildung, Partizipation – Enzyklopädisches Handbuch der Behindertenpädagogik. Herausgegeben von Iris Beck, Georg Feuser, Wolfgang Jantzen und Peter Wachtel. Band 6: Gemeindeorientierte pädagogische Dienstleistungen, herausgegeben von Iris Beck und Heinrich Greving. Stuttgart: Verlag W. Kohlhammer 2011, S. 246-250.
  • Insecure identities: Unaccompanied minors as refugees in Hamburg. In: Popov, Nikolay; Wolhuter, Charl; Leutwyler, Bruno; Hilton, Gillian; Ogunleye, James; Albergaria Almeida, Patricia (Eds.): International Perspectives on Education. Sofia: Bulgarian Comparative Education Society, Conference Book, Volume 10 (2012), pp. 81-86.
  • Refugee Monitoring. Zur Situation junger Flüchtlinge im Hamburger Übergangssystem Schule/Beruf. (Zusammen mit Maren Gag). Hamburg: passage 2012.
  • Refugee Monitoring: research status, conceptual basis and implementation proposals, taking the example of the City of Hamburg. (Zusammen mit Maren Gag). In: Seukwa, Louis Henri (Ed.): Integration of Refugees into the European Education and Labour Market. Requirements for a Target Group Oriented Approach. Frankfurt/Main: Peter Lang Edition 2013, S. 195-229.
  • Der Forschungsstand zum „Fluchtort Hamburg“. Überblick, Desiderate, Thesen und Empfehlungen. In: Gag, Maren; Voges, Franziska (Hrsg.): Inklusion auf Raten. Zur Teilhabe von Flüchtlingen an Ausbildung und Arbeit. Münster: Waxmann-Verlag 2014, S. 15-28.
  • Unterricht im Asylverfahren und in der Duldung. In: Markmann, Gesa; Osburg, Claudia (Hrsg.): Kinder und Jugendliche mit Fluchterfahrungen in der Schule. Baltsmannsweiler: Schneider Verlag Hohengehren 2016, S. 72-78.
  • Für ein freiheitliches und soziales Bildungsrecht. Dimensionen einer Bildungspolitik im Asyl und in der Duldung. In: ISA-Jahrbuch zur Sozialen Arbeit 2016. Herausgegeben vom Institut für soziale Arbeit e.V. Münster: Waxmann Verlag 2017, S. 158-172.
  • Pädagogik im Übergang vom Asyl in die Arbeitswelt. In: Bleher, Werner; Gingelmaier, Stephan (Hrsg.): Kinder und Jugendliche nach der Flucht – Notwendige Bildungs- und Bewältigungsangebote. Weinheim und München: Beltz Juventa 2017, S. 199-213.
  • Access to Education in Germany. (Zusammen mit Louis Henri Seukwa). In: Korntheuer, Annette; Pritchard, Paul; Maehler, Débora B. (Eds.): Structural Context of Refugee Integration in Canada and Germany. GESIS Series, Volume 15. Cologne: GESIS – Leibniz Institute for Social Sciences 2017, pp. 59-65.
  • Unterbringung von Geflüchteten mit einer Behinderung. Ein Problemaufriss am Beispiel von Hamburg. (Zusammen mit Angela Grotheer). In: Westphal, Manuela; Wansing, Gudrun (Hrsg.): Migration, Flucht und Behinderung: Herausforderungen für Politik, Bildung und psychosoziale Dienste. Wiesbaden: VS Verlag 2018, S. 81-101.
  • Education of Refugee-background Youth in Germany: Systemic Barriers to Equitable Participation in the Vocational Education System. (Zusammen mit Annette Korntheuer, Maren Gag und Philip Anderson). In: Shapiro, Shawna; Farrelly, Raichle; Curry, Mary Jane (Editors): Educating Refugee-background Students: Critical Issues and Dynamic Contexts. Bristol: Multilingual Matters, an imprint of Channel View Publications Ltd 2018, pp. 191-207.
  • Geflüchtete in der Schule. Vom Krisenmanagement zur nachhaltigen Schulentwicklung. Stuttgart: W. Kohlhammer Verlag 2018.
  • Annäherungen an Lebenslagen und Biografien junger Geflüchteter – eine unabdingbare Voraussetzung für eine pädagogische Kommunikation „auf Augenhöhe“. In: ders. (Hrsg.): Geflüchtete in der Schule. Vom Krisenmanagement zur nachhaltigen Schulentwicklung. Stuttgart: W. Kohlhammer Verlag 2018, S. 13-36.
  • Die gängigen Angebote für junge Geflüchtete in der deutschen Schule – und was davon zu halten ist. In: ders. (Hrsg.): Geflüchtete in der Schule. Vom Krisenmanagement zur nachhaltigen Schulentwicklung. Stuttgart: W. Kohlhammer Verlag 2018, S. 77-114.
  • Von den Lebenslagen zum Schulprogramm – Schritte zu einer fluchtsensiblen Unterrichtsentwicklung. In: ders. (Hrsg.): Geflüchtete in der Schule. Vom Krisenmanagement zur nachhaltigen Schulentwicklung. Stuttgart: W. Kohlhammer Verlag 2018, S. 215-239.
  • Fluchtort Stadt. Explorationen in städtische Lebenslagen und Praktiken der Ortsaneignung von Geflüchteten. (Zusammen mit Mariam Arouna, Ingrid Breckner, Umut Ibis und Cornelia Sylla). Wiesbaden: Springer VS 2019.
  • Vernachlässigte Themen der Flüchtlingsforschung – Über Leerstellen im Feld der Wissenschaft zu Flucht und Asyl. (Zusammen mit Louis Henri Seukwa und Uta Wagner). In: Behrensen, Birgit; Westphal, Manuela (Hrsg.): Fluchtmigrationsforschung im Aufbruch. Methodologische und methodische Reflexionen. Wiesbaden: Springer VS 2019, S. 25-47.

Download

Hier können Sie die Beschreibung zur Sammelunterkunft in einer PDF Datei downloaden.

z

Audiowiedergabe

Hier können Sie sich den Inhalt dieser Seite als Audiowiedergabe vorlesen lassen.
Skip to content