Hamburger Hungertuch (1997)

Hamburger Hungertuch (1997)

Das Bild zeigt vielfältige Szenen der Ungerechtigkeit und Hoffnung aus dem Lebensalltag von Jugendlichen in Deutschland. Im Mittelpunkt eine Gewaltszene, zwei Jugendliche reißen einem anderen Jugendlichen die Kleider vom Leib. In der linken unteren Ecke ein Schiff, auf dem Geflüchtete untergebracht sind und vor dem die Polizei patrouilliert. Rechts eine Jugendliche, die auf der Straße lebt. In verschiedenen Motiven werden hohe Mietpreise, Medienkonsum, Migration und Statussymbole problematisiert. Verschiedene Projekte, z.B. die Kinderbischöfe oder eine Musikgruppe, die in einer U-Bahn-Station spielt, symbolisieren die Hoffnung. Im oberen Bildrand wölbt sich ein Himmelstor, zwei Hände teilen ein Brot, auf einer Rasenfläche laden ein Tischtuch und elf bunte Sitzkissen zum Mahl ein. Im Bildrahmen die Symbole für den Islam, das Christentum, das Judentum, den Marxismus und den Hinduismus als traditionelle Befreiungskonzepte.
Hungertücher stehen in der Tradition der „Biblia Pauperum“, der „Armenbibel“. Im Mittelalter wurden diese Tücher für eine Bevölkerung verwendet, die mehr­heitlich weder lesen noch schreiben konnte. Heute wird in manchen Regionen Deutschlands das Kreuz mit einem Hungertuch verhüllt, um das gewohnte Bild zu verfremden und neue Deutungs­zugänge zu schaffen. Verschiedene Lebens­texte werden zu einem viel­schichtigen Bildtext verarbeitet. Das Katholische Hilfswerk Misereor hat ab 1976 diesen alten Brauch aufgegriffen und Künstler­innen und Künstler in Indien, Perú, Äthiopien, Haiti, Kamerun, Brasilien und Südafrika Hungertücher gestalten lassen, um sie in der entwicklung­spolitischen Bildungs­arbeit in Deutschland ein­zusetzen. Es fehlte aber ein Hungertuch aus dem Globalen  Norden, und so entwickelten wir die Idee für ein Hamburger Hungertuch.        

 Im Rahmen eines Seminars zu „Befreiungs­theologie und Befreiung­spädagogik“ (Sommer­semester 1997) an der Universität Hamburg haben Studierende zusammen mit Thorsten Knauth und mir intensive Erkundungen zu lebensweltlichen Erfahrungen von Hamburger Jugendlichen mit Armut und  Ungerechtig­keit durch­geführt. Arbeits­gruppen beschäftigten sich mit den Themen Drogen, Dritte Welt und Hamburg, Junge Flüchtlinge, Kinder­bischöfe, St. Pauli, Emotionaler Armut, Umgang mit Minderheiten. Sie befragten Personen, fotografierten Situationen, werteten Medien­berichte aus und sprachen mit verschiedenen  Hamburger Religions­gemeinschaften über deren Umgang mit Armut. 

 Auf der Basis der Recherchen hat die Seminar­gruppe mit Unter­stützung von Folker Doedens (Pädagogisch-Theologisches Institut Hamburg) und dem Hamburger Künstler Sönke Nissen-Knaack (→ León) ein Ölgemälde erstellt, das den Erfahrungen der Hamburger Jugendlichen bildnerischen Ausdruck verleiht. Das Bild verschränkt Orte, Szenen und Zusammen­hänge von Armut und Ungerechtig­keit mit hoffnungs­stiftenden Gegen­bildern aus der Vergangenheit ebenso wie aus der Lebenswelt der Jugendlichen. Das Gemälde verknüpft verschiedene Erzähl-, Zeit- und Deutungsebene miteinander, vermischt Reales und Metaphorisches und fügt einzelne Symbole, Zeichen und Zitate provokant zu einem Gesamtbild zusammen. 

  Von dem Ölgemälde wurden Farbstoff­drucke (Auflage: 1.000 Stück, Format 160 cm x 110 cm) hergestellt. Eine Arbeits­gruppe der Universität Hamburg und des Pädagogisch-Theologischen Instituts Hamburg entwickelte dazu didaktisches Begleit­material für die pädagogische Arbeit in Schulen und Gemeinden. Beides zusammen wurde als Medien­paket publiziert und Schulen, Jugen­darbeit und Gemeinden für die pädagogische Arbeit angeboten. 

 Am 1. April 1998 konnte das Gesamt­projekt Hamburger Hungertuch im Rahmen einer Veran­staltung in der Haupt­kirche St. Jacobi der Öffentlich­keit vorgestellt werden, um das Thema „Armut in Hamburg“ als pädagogische Heraus­forderung und als Inhalt des Unterrichts in der Schule und der pädagogischen Arbeit in den Gemeinden deutlich zu machen. Hier wirkte auch wieder die Seminar­gruppe der Universität Hamburg mit. Aus dem Vorhaben ging außerdem das Projekt (→) Lebensperspektiven hervor. 

Veröffentlichungen zum Hamburger Hungertuch
  • Armut und Ungerechtigkeit im Alltag von Jugendlichen. Hamburger Hungertuch. Medienpaket: Stoffdruck und Didaktisches Begleitmaterial. (Zusammen mit Christine Buchholz, Thorsten Knauth und Michaela Musahl). Hamburg: PTI 1998. 
  • Das Bild auslegen. (Zusammen mit Thorsten Knauth). In: Buchholz, Christine; Knauth, Thorsten; Musahl, Michaela; Schroeder, Joachim (Hrsg.): Armut und Ungerechtigkeit im Alltag von Jugendlichen. Hamburger Hungertuch. Hamburg: PTI 1998, S. 70-75. 
  • Gestalten der Armut. (Zusammen mit Thorsten Knauth). In: Buchholz, Christine; Knauth, Thorsten; Musahl, Michaela; Schroeder, Joachim (Hrsg.): Armut und Ungerechtigkeit im Alltag von Jugendlichen. Hamburger Hungertuch. Hamburg: PTI 1998, S. 96-102. 
  • Ein Hungertuch für Hamburg. Über Anfänge, Konzeption und Verlauf eines „befreienden” Seminarprojekts. (Zusammen mit Thorsten Knauth). In: Goßmann, Hans-Christoph; Ritter, André (Hrsg.): Interreligiöse Begegnungen. Ein Lernbuch für Schule und Gemeinde. Hamburg: EB-Verlag 2000, S. 153-170. 
  • A codification on the poverty of children and young people in a wealthy city: The Hamburg Hunger Tapestry. (Zusammen mit Thorsten Knauth). In: Telleri, Fausto (Ed.): Nuove tecnologie e sviluppo sostenibile. Bologna: Clueb 2002, S. 356-267. 
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